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Folge 23: Wie kannst Du mit Schrift etwas bewirken, Chris Campe?

Folge 23: Hand Lettern mit Chris Campe

Als Deutschlands einzige „Unterwassertypografiespezialistin“ bezeichnet sich Chris Campe. Sie schreibt ihre Botschaften mit Pinsel und Werkzeug auf Papier, Wände oder Schaufenster – Hand Lettering ist ihre Spezialität. Damit macht sie sich nicht allein zum Werkzeug für niedliche Botschaften, sondern sie hat eine klare Haltung und eine Botschaft: „Say something“.

Was sie damit konkret meint, für welche Projekte sie bereits tätig war und was sie mit ihrer ganz persönlichen Schrift bewirken konnte, erzählt sie im Podcast mit Christoph Luchs. Dabei geht sie auch darauf ein, was sie am Hand Lettering fasziniert, wie sie von der Illustration zur Typografie über Hamburg und Chicago kam und für wen sie schon mehrere Bücher geschrieben hat.

Als Initiatorin hat sie zusammen mit anderen Kreativen die Berlin Letters ins Leben gerufen, die im Jahr 2024 erstmals nach der Pandemie wieder stattfand. Sie erzählt, was sie dort erlebt hat und was ihr solche Events wie die Beyond Tellerand in Düsseldorf geben, auf der sich Kreative aller Art austauschen.

Die Website von Chris Campe: https://www.allthingsletters.com

Die Website des Festivals Berlin Letters: https://berlinletters.com

Transkript:

CHRISTOPH LUCHS: Zur heutigen Folge des Podcast Design Erklärer begrüße ich ganz herzlich Chris Campe aus Hamburg. Hallo, guten Morgen! Moin, Moin!

CHRIS CAMPE: Bloß nicht Moin, moin!

CHRISTOPH LUCHS: Warum nicht?

CHRIS CAMPE: Also in Hamburg sagt man halt Moin und wer Moin Moin sagt, outet sich als Tourist oder jemand von außerhalb, die einfach keine Ahnung haben.

CHRISTOPH LUCHS: Prima. Du hast dich selber mal als Deutschlands einzige Unterwasser Typografie Spezialistin bezeichnet und das hat auch mit deiner Art des Arbeitens zu tun, mit deiner Typografie, aber auch mit Handlettering. Du hast die Berlin Letters mit initiiert und mitorganisiert und das war auch in diesem Jahr wieder. Wie war es denn eigentlich bei den Berlin Letters?

CHRIS CAMPE: Es war einfach großartig. Das Festival hat drei Tage lang alles rund um das Thema Schrift und ihre Gestaltung gefeiert. Dabei ging es um Typografiedesign, Kalligraphie, Lettering, Signpainting und viele andere Arten, Schrift zu gestalten. Wir hatten 23 Vorträge und 15 Workshops, was das Programm unglaublich vielseitig gemacht hat. Besonders beeindruckend war, dass man schon am Ende des ersten Tages spürte, wie begeistert die Teilnehmer waren. Es war deutlich, dass hier etwas entsteht, dass dieser Raum funktioniert, in dem Menschen zusammenkommen, sich austauschen und neue Impulse mitnehmen können. Das fand ich einfach fantastisch.

CHRISTOPH LUCHS: Warst du von Anfang an dabei und wie ist das entstanden?

CHRIS CAMPE: Ich war von Anfang an dabei. Wir sind zu viert. Nils Töpfer, Claudia Geminski, Ulrike Rausch und ich als Team. Nils und Claudia haben sehr lange für die Typo gearbeitet, also Typo Berlin, die große Designkonferenz, die es 20 Jahre lang gab und die 2018 dann eingestellt wurde, nachdem von Shop von Monotyp gekauft wurde. Dann wurde die Konferenz als zu teuer, zwecklos eingestuft. Als die Typo-Konferenz eingestellt wurde, sahen Claudia und Nils die Notwendigkeit, diese wichtige Plattform für DesignerInnen aus ganz Europa fortzuführen. Aufgrund ihrer Expertise in Logistik und Marketing waren sie überzeugt, eine solche Veranstaltung erfolgreich organisieren zu können. So entstand die Idee, eine neue Konferenz ins Leben zu rufen, bei der Ulrike und ich für die Programmgestaltung verantwortlich sein sollten.

Ulrike und ich übernahmen die inhaltliche Gestaltung und die Einladung der Referentinnen. Nils und Claudia kümmerten sich um die gesamte Organisation, von der Logistik bis zur Technik. Diese klare Arbeitsteilung in unserem Viererteam funktionierte hervorragend. Die erste Berlin Letters fand 2019 statt und war ein voller Erfolg. Für 2020 waren wir bestens vorbereitet, mussten die Veranstaltung jedoch aufgrund der Pandemie und des Krieges verschieben und schließlich absagen. Die Unsicherheit, ob die Menschen angesichts dieser Krisen bereit wären, Geld für eine solche Veranstaltung auszugeben, war groß.

Die Wiederbelebung der Berlin Letters nach fünf Jahren war ein voller Erfolg. Das Interesse der Besucher:innenaus dem Jahr 2019 war überwältigend und zeigte, wie sehr sie die Veranstaltung vermisst hatten. Die Atmosphäre war geprägt von einer starken Gemeinschaft und einer großen Begeisterung. Gleichzeitig war es spannend zu beobachten, wie sich die Interessen derTeilnehmerInnen in den vergangenen Jahren verändert hatten. Einige waren nicht mehr dabei, während andere neue Schwerpunkte gesetzt hatten.

So ist das entstanden und so steht es jetzt. Natürlich warten jetzt alle auf den Termin für nächstes Jahr. Aber wir haben schon relativ schnell nach dem Festival im Juli entschieden, dass wir das nicht jedes Jahr machen können. Da wir das Ganze ja nebenbei organisieren – also neben unserer eigentlichen Arbeit – und auch nicht daran verdienen, war klar, dass es logistisch nicht machbar ist, das jährlich zu wiederholen. Deshalb haben wir beschlossen, das Festival im nächsten Jahr auszulassen und es 2026 wieder stattfinden zu lassen. Es wird also künftig im zweijährigen Rhythmus stattfinden. Für alle, die darauf warten, kann ich das hier schon mal ankündigen.

CHRISTOPH LUCHS:  Jetzt gibt es überall ein großes Oho! Warum denn so lange? Können wir nicht was dazwischen machen? Gibt es nicht ein Stammtisch oder irgendwie so eine kleine Konferenz oder so?

CHRIS CAMPE: Ja, es gibt tatsächlich auch andere tolle Konferenzen. Zum Beispiel die, bei der wir uns kennengelernt haben, Beyond Tellerrand, und auch die Berlin-Ausgabe, die jetzt im November stattfindet. Für alle, die es nicht erwarten können, wäre das eine gute Möglichkeit. Ich war im Mai in Düsseldorf und habe dort den Eröffnungsvortrag gehalten – und es war wirklich beeindruckend. Die Atmosphäre, die Stimmung, die Leute – alles sehr offen. Das ist natürlich vor allem Marc Thiele zu verdanken, der das alles organisiert. Ich kann die Konferenz nur empfehlen, sie ist wirklich toll.

Was mich überrascht hat, war, dass auch Themen, bei denen ich anfangs nicht dachte, dass sie mich interessieren würden, dann total spannend waren. Es ist erstaunlich, wie viel man über andere Disziplinen lernen kann – sogar über eher technische Themen, die weit von meinem täglichen Tun entfernt sind.

Für die Berliner Schrift-Community wäre Beyond Tellerrand übrigens eine gute Überbrückung bis zum nächsten Berlin Letters. In Berlin gibt es ja eine ziemlich große Typo- und Schrift-Community, viele Typedesigner und auch den Typo-Stammtisch, der monatlich stattfindet. Einmal war ich da, und da haben sich 80 Leute über das Versal-Eszett unterhalten. Man denkt sich: „Wie kann das eigentlich so ein großes Thema sein?“ Aber genau das ist es, was diese Community ausmacht – man spricht über all die Details, die für die meisten vielleicht unerklärlich sind, aber in unserer Welt total wichtig.

Ja, das ist wirklich schön, diese Veranstaltungen in Berlin und auch in Hamburg. In Hamburg gibt es mittlerweile auch einen Typo-Stammtisch, den ich selbst organisiere, weil ich nicht mehr ständig nach Berlin fahren wollte. Die ersten Jahre, so 2013/14, habe ich mich komplett auf Schrift spezialisiert. Ich hatte vorher Illustration und Kulturwissenschaften studiert, aber irgendwann hatte ich einfach genug vom figürlichen Zeichnen und allem, was damit zu tun hatte. Ich dachte mir: Jetzt mache ich nur noch Schrift, dann habe ich meine Ruhe. Anfangs bin ich dafür aber regelmäßig nach Berlin gefahren, wirklich so oft, dass alle dachten, ich wohne dort. Dabei war ich die ganze Zeit in Hamburg.

Es gab damals schon einen Typo-Stammtisch in Hamburg, aber der fand nur sehr unregelmäßig statt. Also habe ich zusammen mit einer Freundin Alex, der das Ganze organisiert hat, gefragt, ob wir das übernehmen können, falls ihm das zu viel wird. Und so entstand der Typo-Stammtisch Hamburg, der jetzt regelmäßig alle zwei Monate stattfindet. Es ist immer total nett, weil ich versuche, es mit möglichst wenig Aufwand zu organisieren. Ich lade einfach Leute ein, die ich kenne oder die mich interessieren und die ohnehin in der Stadt sind. So entsteht das Programm. Meistens gibt es einen Vortrag, der etwa eine halbe Stunde dauert – einfach als Gesprächsanlass. Danach kann man noch etwas trinken und sich austauschen. Mir ist es wichtig, dass es nicht zu hierarchisch oder steif wird. Es soll locker und offen bleiben, damit sich alle wohlfühlen und wirklich ins Gespräch kommen.

Es gibt viele Leute, die ich kenne, vor allem aus der Illustration, und in Hamburg gibt es auch viele, die diese Richtung eingeschlagen haben, weil man hier sehr gut Illustration studieren kann. Viele von ihnen bezeichnen sich selbst nicht als Typografen oder Typodesigner, aber es gibt trotzdem oft diese Haltung: „Schrift? Da muss man richtig Ahnung haben, sonst sollte man besser die Finger davon lassen.“ Genau da versuche ich, gegen anzukämpfen – auch durch den Typo-Stammtisch. Immer wieder höre ich, dass Leute sagen: „Ach, da wollte ich schon immer mal hin, aber ich hab ja nicht genug Ahnung.“ Aber genau das ist es, was ich ändern möchte. Der Stammtisch ist wirklich offen, und es geht nicht darum, sich zu profilieren oder anzugeben – also nicht darum, zu erzählen, was man alles für Nike gemacht hat oder so. Es geht vielmehr darum, zusammenzukommen, sich auszutauschen, ohne Druck und ohne Hierarchien. Die Leute, die da sind, sind ganz unterschiedlich – in Bezug auf Erfahrung, Alter, Hintergrund – und das macht es einfach spannend und abwechslungsreich. Also, ich lade herzlich alle ein, zum Typo-Stammtisch in Hamburg zu kommen!

CHRISTOPH LUCHS: Super. Und die Links, die werden wir natürlich in den Shownotes noch veröffentlichen, damit auch alle wissen, wohin sie da klicken oder sich anmelden können. Das ist super, wenn du solche Events machst oder Veranstaltungen. Ob das jetzt ein Typo Stammtisch ist oder die Berlin Letters, was gibt dir das denn eigentlich kreativ oder auch von der Inspiration her? Ist überhaupt Zeit dafür, sich da Inspirationen zu holen? Du eben gerade von der Beyond Tellerrand gesprochen, Da hast du dich ja selber auch sehr intensiv sicherlich vorbereitet auf deinen Vortrag. Und dann sitzt man da und war quasi die Die Eröffnung der gesamten Veranstaltung weiß überhaupt noch nicht, was machen denn die anderen so eigentlich und was haben die denn eigentlich für Themen? Und passt das überhaupt so zusammen? Man ist sich auch ziemlich unsicher und dann geht man von der Bühne und dann guckt man sich um und denkt so okay, was kommt jetzt noch alles? Wie inspirierend ist das für dich, wenn du solche Veranstaltungen machst, du da dran teilnimmst?

CHRIS CAMPE: Es war wirklich inspirierend, und bei Beyond Tellerrand war es besonders, weil dort schon einige Leute aus meinem Netzwerk als Sprecher aufgetreten sind, wie Ulrike Rausch und Doro Oppermann, mit der ich befreundet bin. Ich habe immer gedacht: „Wann bin ich dran?“ Und dann kam Marc irgendwann letzten Herbst auf mich zu und sagte, dass ich endlich einen Vortrag halten könnte. Im Frühjahr, als er das Programm für die Konferenz zusammengestellt hat, schrieb er mir: „Ich habe dich jetzt als Eröffnungsvortrag gesetzt.“ Ich dachte nur: „Okay, kein Druck!“ Ich hatte noch nie einen Vortrag vor so einer großen Menge gehalten – 500 Leute, das war doppelt so viel wie bei den Konferenzen, bei denen ich bisher gesprochen habe. Es war schon aufregend.

Aber im Nachhinein fand ich es wirklich gut, gleich zu Beginn dran zu sein, weil man dann alle kennt und sich die Atmosphäre viel entspannter anfühlt. Es war eine große Freude, die zwei Tage dort zu verbringen und ständig kamen Leute auf mich zu, die einfach nur im Vorbeigehen gesagt haben: „Super Vortrag!“ Allein dafür hat es sich schon gelohnt, überhaupt dort zu sein. Ich hätte es aber ungern als Letzte gemacht, weil es wirklich hilft, wenn die Leute einen schon kennen, nachdem man gesprochen hat.

An dieser Stelle möchte ich auch allen, die denken „Ich kann keine Vorträge halten“ oder „Was habe ich schon zu sagen?“, raten, es einfach zu tun. Man hat mehr zu bieten, als man denkt, und es ist eine tolle Erfahrung, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Besonders Frauen fällt es oft schwer, sich selbst zuzutrauen, dass sie etwas zu sagen haben oder dass sie genug Ahnung von einem Thema haben. Es kommt oft die Gedanken wie: „Ich bin noch nicht so weit“ oder „Ich habe da nicht genug Erfahrung“. Das kenne ich auch. Vor zehn Jahren hätte ich niemals gedacht, dass ich mal vor ein paar hundert Leuten sprechen würde, ohne Panik zu bekommen. Aber ich wollte es lernen, also habe ich angefangen.

Am Anfang habe ich mit kleineren Vorträgen angefangen, zum Beispiel bei Pecha Kucha mit sieben Minuten oder vor Studierenden an Hochschulen. Die sind ja immer dankbar, wenn man sagt: „Ich komme vorbei und halte einen Vortrag.“ Besonders bei der Hochschule, an der ich selbst studiert habe, war das eine gute Möglichkeit, das zu üben. Ich finde es total wichtig, diese Erfahrung zu sammeln, und zwar nicht nur für mich, sondern auch, weil es eine Möglichkeit der Akquise ist. Wenn du vor 500 Leuten sprichst, dann wissen sie, was du machst, und du musst nicht mehr lange PDFs hin und her schicken. Ich weiß nicht, ob man heutzutage noch wirklich PDFs verschickt, aber früher war das in der Illustration zumindest eine gängige Methode zur Akquise. Ich persönlich habe das seit Jahren nicht mehr gemacht, weil ich viel mehr durch Vorträge, Veranstaltungen und Instagram-Präsenz auf mich aufmerksam mache. Diese Form der Akquise wird oft unterschätzt, aber sie kann unglaublich effektiv sein.

Zurück zu der Frage, was mir das gibt: Es macht mir einfach Spaß. Manchmal fühle ich mich immer noch wie ein Kind – ich habe ein Bild gemalt, halte es hoch und sage: „Guck mal!“, und alle reagieren mit „Ah, toll, das hast du schön gemacht“. Ein bisschen von diesem Gefühl bleibt immer noch da, und das finde ich super. Lob ist toll, Konferenzen sind spannend, und der Austausch, der dadurch entsteht, ist einfach bereichernd.

Ich denke mir immer, wenn ich Anfang 20 jemanden wie mich auf der Bühne gesehen hätte, hätte mich das echt ermutigt. Und das ist es, was mich auch immer noch motiviert: Wenn ich eine Frau auf der Bühne sehe, eine mit kurzen Haaren oder eine queere Person – das gibt mir so viel. Es ist fast gar nicht so wichtig, was ich sage, sondern viel mehr, dass ich da oben stehe. Das ist irgendwie mein Anliegen: zu zeigen, dass es möglich ist. Design ist für mich fast ein Mittel zum Zweck, um genau das tun zu können. Natürlich mache ich auch gerne Buchstaben, und es macht mir Spaß, mit Schrift zu arbeiten. Aber es gibt etwas, das ich da tue, was andere gut finden – auch wenn ich selbst manchmal gar nicht so genau weiß, wie das alles zusammenkommt.

Es geht auch darum, wirklich Raum einzunehmen und in der Öffentlichkeit zu stehen, ohne ständig zu denken: „Oh nein, was denken die über mich?“ oder „Oh Gott, was mache ich da?“ Stattdessen geht es darum zu sagen: „Nee, Leute, ich bin hier, und ich habe etwas zu sagen.“ Und das ist eigentlich der Kern, warum ich das mache.

Ich habe darüber nachgedacht und festgestellt, dass ich schon in der Schulzeit Benefizkonzerte im Jugendzentrum organisiert habe – eigentlich habe ich immer Veranstaltungen gemacht und Räume geschaffen, in denen Leute zusammenkommen konnten. Das macht mir einfach Spaß. Es ist zwar auch total anstrengend, vor allem nach so einer Veranstaltung, wenn ich die ganze Nacht nicht schlafen kann, weil ich noch überlege: „Was habe ich gesagt? Was haben die Leute gesagt? Was haben die wirklich gemeint?“ Diese Gedanken weiterzuverarbeiten ist für mich sehr anstrengend, aber gleichzeitig finde ich es unglaublich schön, Menschen zusammenzubringen. Ich habe das Gefühl, dass sie sich viel zu sagen haben und dass es spannend ist, diese Begegnungen zu ermöglichen.

Räume zu öffnen und einfach zu sehen, was passiert, ist für mich der große Reiz an Veranstaltungen. Und deshalb liebe ich es, diese Räume zu schaffen und zu schauen, welche Gespräche und Ideen daraus entstehen.

CHRISTOPH LUCHS: Genau. Stichwort was zu sagen haben. Du hattest ja dein Stichwort oder deinen Vortrag bei der Beyond Tellerrand auch als „Say Something“ übertitelt. Das Ganze war ja komplett auf Englisch und wurde dann auch teilweise Simultanübersetzung übersetzt, was auch sehr witzig war, by the way. Aber dein Vortrag war, er hatte ja auch eine eindeutige Botschaft, also tatsächlich laut zu sein und aufzutreten. Wie Was war denn das Thema eigentlich und was hast du dafür dann auch gezeigt von dir, von deinen Arbeiten und auch von deinen Dingen, die du jetzt zitiert hast?

CHRIS CAMPE: Ich beschäftige mich seit über zehn Jahren intensiv mit Schrift und gestalte dabei alles von Grund auf – die komplette Zeitschrift entsteht sozusagen aus meiner Hand. Trotzdem fiel es mir lange unglaublich schwer, etwas Eigenes zu sagen. Das ist ja auch ein häufiges Problem beim Lettering: Man möchte Buchstaben zeichnen, aber weiß oft nicht, was man eigentlich schreiben soll. Am Ende greift man dann zu irgendeinem „inspirierenden“ Zitat, wie „But first, coffee“ oder Ähnlichem. Etwas wirklich Eigenes zu formulieren – etwas, das Bestand hat und zu einem selbst passt – ist eine ganz andere Herausforderung. Es ist nicht nur eine Frage des Gestaltens, sondern auch eine inhaltliche Auseinandersetzung, und das fällt vielen schwer.

Ich schreibe schon immer und bewege mich an dieser Schnittstelle zwischen Form und Inhalt. Genau deshalb passt Lettering so gut zu mir: Es vereint Schreiben und Gestalten auf eine sehr direkte Weise – oder zumindest kann es das tun.

Trotzdem habe ich mich viele Jahre lang fast ausschließlich mit der Form beschäftigt. Ich habe Alphabete gezeichnet, immer wieder variiert, ausprobiert, wie weit ich gehen kann. Es hat Spaß gemacht, mit den Formen zu spielen, weil sie allen vertraut sind. Und dann kann man diese Formen an ihre Grenzen bringen, bis sie irgendwann unkenntlich werden – bis aus einem Buchstaben keine Schrift mehr wird, sondern einfach nur noch eine grafische Form.

Das finde ich spannend: Wo hört ein Buchstabe auf, ein Buchstabe zu sein? Wo löst sich die Verbindung zur Konvention auf, die definiert, wie Buchstaben auszusehen haben? Genau an diesem Punkt, an dieser Grenze, finde ich die größte Faszination.

Damit habe ich einige Jahre verbracht, aber ich habe mich immer wieder gefragt: Was will ich eigentlich sagen? In den letzten Jahren hatte ich oft das Gefühl, dass ich mich ausdrücken möchte, aber nicht wusste, wie. Vieles von dem, was mir einfiel, war entweder zu banal, also zu allgemein, oder es wurde zu persönlich. Dazwischen habe ich lange keine Form gefunden – keine Texte, die wirklich das ausdrückten, was ich sagen wollte.

Genau das habe ich auch in meinem Vortrag thematisiert: diesen Wunsch, mich auf eine authentische Art und Weise auszudrücken. Ich habe dabei mal eine Bewegung beschrieben, die ich jetzt schwer erklären kann – für Audio würde ich sagen, es war so, als ob ich die Arme weit auseinanderreiße, um mir Platz zu schaffen. Dieser Wunsch, Raum für mich und meine Ideen zu schaffen, war sehr präsent.

Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass ich mich nach zehn Jahren in dieser Nische, in der ich mich nur mit Schrift beschäftige, ein wenig beengt gefühlt habe. Es ist, als hätte ich den Drang, über diese Grenzen hinauszugehen und Neues zu erkunden.

CHRISTOPH LUCHS:  Die Nische ist sehr eng, im wahrsten Sinne.

CHRIS CAMPE: Ja, genau, und dann stellt sich eben die Frage: Gehe ich aus dieser Nische raus oder tauche ich noch tiefer ein? Ich glaube, das ist eine typische Frage, die man sich in der Karriere nach so vielen Jahren stellt. Nach zehn Jahren fragt man sich: Mache ich einfach so weiter wie bisher? Was kommt als Nächstes? Bleibe ich dabei oder mache ich etwas ganz anderes? Und wenn ich weitermache, wie finde ich einen neuen Zugang, der es für mich wieder spannend macht?

Am Anfang war ich total begeistert, wenn ich zum Beispiel Titel-Lettering für ein Buchcover gestalten durfte. Ich habe das früher oft gemacht, und es war immer etwas Besonderes. Heute hat sich das aber zu meinem „Brotjob“ entwickelt. Es ist interessant, weil Leute oft erstaunt sind und sagen: „Wow, du machst Lettering und kannst davon leben?“ Für sie klingt das nach einem außergewöhnlichen, kreativen Beruf. Aber für mich ist es mittlerweile Alltag geworden.

Was mich jetzt wirklich interessiert, sind eigene Projekte – Dinge, die aus mir selbst heraus entstehen, die mich persönlich herausfordern. Genau darüber habe ich auch in meinem Vortrag bei der Beyond Tellerrand gesprochen. Es ging um die Frage: Wie finde ich wieder Begeisterung für das, was ich mache? Wie kann ich meine Arbeit für mich neu entdecken und gestalten? Und auch darum ging es in dem Vortrag bei der Beyond Tellerrand.
Am Ende hat sich dieser Wunsch – Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht, was – Anfang des Jahres auf eine überraschende Weise geklärt: Ich bin zu den großen Demonstrationen gegen die AfD gegangen und habe Demo-Schilder gestaltet. Ich mag Sprache sehr und schreibe viel, aber ich habe eine Abneigung gegen abgedroschene Phrasen, auch wenn sie inhaltlich richtig sind – etwa „Nazis raus“ oder andere typische Slogans gegen Rechts. Ich wollte etwas Eigenes machen, etwas, das aus mir herauskommt.

Also habe ich ein Schild gemacht, auf dem nur stand: „Nein, AfD nein!“. Danach folgten zwei weitere Schilder: „Echt nicht“ und „Könnt ihr knicken“. Ich wollte bewusst etwas gestalten, das zwar ernsthaft ist, aber auch einen humorvollen Ton hat. Denn die Situation – dass man überhaupt demonstrieren muss, obwohl man viel lieber auf dem Sofa sitzen würde – ist ja schon belastend genug. Ich wollte den Leuten etwas zu schauen und zu schmunzeln geben.

Diese Schilder habe ich dann auch auf Instagram gezeigt, einfach weil es sich um Schrift handelte. Es war nicht so, dass ich damit sagen wollte: Ihr müsst alle aktiv werden!, obwohl das eigentlich mein Gefühl war. Es war mehr: Ich habe ein Schild gemacht, und da ist Schrift drauf – also poste ich das auf meinem Schrift-Account. Die Resonanz war riesig, viel größer, als ich erwartet hatte. Ich glaube, es war die beliebteste Story, die ich je gepostet habe. Ein einfaches Foto im Halbdunkel, auf dem mein Demo-Schild zu sehen war.

Ich bin danach weiter zu den Demonstrationen gegangen und habe immer wieder neue Schilder gestaltet. Es war faszinierend, wie schnell das Kreise zog. Die Schilder waren grafisch auffällig gestaltet – weiße Schrift auf schwarzem Grund, sehr plakativ, gut lesbar. Menschen begannen, die Schilder nachzumalen. Auf der großen Demo in Hamburg im Januar, die wegen Überfüllung mit 50.000 Menschen abgebrochen wurde, wurde ich sogar von Marc Raschke fotografiert – einem Journalisten, den ich gar nicht kannte. Er sprach mich an: „Klar, von dir mit den Schildern muss ich ein Foto machen.“ Dieses Foto postete er dann, und dadurch wurde das Ganze noch sichtbarer.

Eine Woche später schickte mir eine Freundin aus einem Vorort von Hamburg ein Foto von meinem Schild: Jemand hatte es wirklich eins zu eins nachgemalt. Es war das „Könnt ihr knicken“-Schild, und ich war beeindruckt, wie präzise es kopiert war. Das musste jemand vom Fach gewesen sein. Es war verrückt zu sehen, wie diese Schilder ihren Weg gemacht haben und wie viele Leute sie inspiriert haben.

Eine Freundin von mir hatte dann sogar die Frau angesprochen, die mein Schild nachgemalt hatte. Sie fragte sie: „Woher hast du das Schild?“ und die Frau antwortete nur: „Habe ich irgendwo im Internet gesehen.“ Das war total krass für mich.

Daraufhin habe ich ein Tutorial gemacht, in dem ich erklärt habe, wie ich die Schilder gestalte. Ich glaube, das wurde von vielen wahrgenommen, denn wochenlang haben mir Leute ihre Versionen meiner Schilder geschickt – oder eigene Texte, aber im gleichen StiChristoph Luchs: weiße Buchstaben auf schwarzem Grund. Das war richtig nett und hat mich sehr gefreut.

Gleich nach der ersten Demo hatte mir außerdem eine Frau geschrieben, die mir auf Instagram folgt. Sie fragte: „Was machst du eigentlich mit deinen Schildern nach der Demo?“ Und ich antwortete: „Keine Ahnung, wahrscheinlich in die Schublade?“ Daraufhin meinte sie: „Ich arbeite beim Haus der Geschichte, wir hätten da vielleicht Interesse für unsere Sammlung.“ Und ich war erst mal total überrascht: „Welches Haus der Geschichte?“ Es gibt ja viele „Häuser der irgendwas“. Und dann stellte sich heraus: Sie meinte DAS Haus der Geschichte in Bonn!

Jetzt sind tatsächlich vier oder fünf meiner Schilder gegen die AfD Teil der Sammlung im Haus der Geschichte. Sie stehen dort als Zeitdokumente, die eine Phase repräsentieren, in der Anfang 2024 Millionen von Menschen in Deutschland gegen Rechts demonstriert haben. Es ist wirklich erstaunlich, was sich daraus alles entwickelt hat.

Es gab dann noch ein paar weitere Entwicklungen, aber um es kurz zu machen: Das Ganze zog wirklich weite Kreise. Bis Mai war das meiste davon schon passiert, und darum ging es dann auch in meinem Vortrag. Im Winter hatten mir bereits viele Leute geschrieben: „Es ist so super, dass du das machst! Danke, dass du dich so klar positionierst.“ Und ich dachte nur: Hä? Das ist doch selbstverständlich.

Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass jemand in der heutigen Zeit noch keinen Stress mit der AfD hat. Ich meine, wer keinen Stress mit der AfD hat, macht meiner Meinung nach einfach zu wenig. Wobei ich auch sagen muss, dass ich selbst keinen echten Stress mit ihnen hatte. Es ist natürlich super safe, in Hamburg ein Schild zu malen und damit auf eine Demo zu gehen, die sich wie ein Sonntagsspaziergang anfühlt. Da sind Familien mit Kindern, die Stimmung ist entspannt. Das ist eine andere Welt als auf dem Land, wo meine Schwester lebt. Dort sieht das ganz anders aus: Die Leute kennen sich, und die gesellschaftlichen Spannungen sind spürbar stärker.

Trotzdem finde ich es cool, dass meine Schilder offenbar einige Leute motiviert haben, selbst eines zu gestalten oder sogar auf eine Demo zu gehen. Das hat mich wirklich gefreut. Aber ich möchte mich nicht darauf festlegen, mich jetzt dauerhaft politisch zu äußern oder zu allen möglichen politischen Themen etwas zu sagen. Das war eine sehr konkrete Phase und ein Thema, das mich bewegt hat, aber ich sehe mich nicht ausschließlich in dieser Rolle.

Es kamen dann tatsächlich recht schnell Anfragen wie: „Willst du nicht ein Schild zu diesem oder jenem Thema machen?“ oder „Könntest du das nicht auch in deinem Feed adressieren?“ Aber das ist etwas, was ich nicht möchte. Ich werde immer sofort widerständig, fast bockig, wenn ich das Gefühl habe, dass mir jemand etwas aufzwingen will. Ich will selbst entscheiden, was ich mache, und genau deshalb mache ich ja auch, was ich mache.

Zum Beispiel mache ich keine Werbung für Produkte oder irgendwelche Kooperationen, selbst wenn das vielleicht manchmal leicht verdientes Geld wäre. Es wäre sicherlich auch sinnvoll, das gelegentlich zu tun, aber ich lasse mich einfach nicht gerne vor den Karren spannen. Ich möchte unabhängig bleiben, und deswegen stoßen solche Dinge bei mir schnell an Grenzen.

In den letzten neun Monaten hat sich bei mir aber trotzdem eine Bewegung entwickelt – von diesem ersten „Aha-Moment“, dass ich mit meinen Schildern etwas sagen kann, hin zu etwas Größerem. Es geht mir mittlerweile darum, nicht nur etwas zu schreiben, sondern es auch visuell aufzubereiten.

Vorher habe ich schon lange Texte geschrieben, eher literarische Sachen, die nie veröffentlicht wurden. Aber diese Texte und mein gestalterisches Arbeiten waren immer streng getrennt: Hier der Text, da das Design. Jetzt beginnen die beiden Bereiche ineinanderzufließen, und das fühlt sich sehr stimmig an.

Da dachte ich mir: Ja, das ist eigentlich genau das, was ich machen will – etwas, das textlich und visuell funktioniert. Eine Art visuelle Textarbeit, die plakativ und grafisch aufbereitet ist, aber trotzdem etwas Eigenes transportiert.

Im Frühjahr kam dann das „Forward Festival“ auf mich zu, ein Designfestival, das in verschiedenen Städten Europas stattfindet. Sie fragten, ob ich für das Festival in Hamburg etwas ausstellen möchte. Das war die perfekte Gelegenheit, diese Idee weiterzuführen.

Für die Ausstellung habe ich eine Arbeit namens „Manifesto“ gestaltet. Die Vorgeschichte dazu steht, glaube ich, auf meiner Webseite, aber um es kurz zu machen: Ich habe 15 Schilder erstellt, die alle auf Englisch beschriftet sind. Jeder Satz begann mit „I wish“. Die Texte waren das Ergebnis einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit der Frage: Was wünsche ich mir? Was möchte ich verändern?

Die Wünsche reichten von ganz Alltäglichem bis zu sehr Grundsätzlichem. Ein Beispiel war:
„I wish I could ride my bike without risking my life.“ – Ein Wunsch nach sicherem Radfahren in Hamburg, etwas, das so banal klingt, aber oft nicht gewährleistet ist.

Andere Wünsche waren tiefergehend, wie:
„I wish I didn’t have to worry about being raped.“ – Ein Gedanke, der als Frau fast immer präsent ist. Eine Art alltägliche, grundlegende Sorge, die leider viel zu normal geworden ist.

Und dann gab es Sätze, die sich mit gesellschaftlichen Strukturen beschäftigen, zum BeispieChristoph Luchs:
„I wish it was just a matter of mindset.“ – Damit wollte ich die problematische Botschaft kritisieren, die suggeriert, dass wir alles selbst in der Hand haben, wenn wir nur „richtig“ denken. Diese Idee der Individualisierung von Verantwortung, bei der strukturelle Probleme auf persönliche Defizite abgeschoben werden, finde ich absolut schlimm.

Es wird einem eingeredet: „Du bist selbst schuld, wenn du wenig Geld hast – du hast einfach das falsche Mindset.“ Oder: „Du bist nicht erfolgreich, weil du nicht genug an deiner Einstellung arbeitest.“ Das halte ich für gefährlich und toxisch. Es verschleiert die eigentlichen, tief liegenden strukturellen Probleme.

Was mich erschreckt, ist, wie viele Menschen diese Narrative übernehmen. Sie plappern von „Mindset“, „Komfortzone“ und solchen Dingen, als wären das die universellen Lösungen für alles. Ich finde, diese Denkweise verstellt den Blick auf die Realität und erzeugt zusätzlichen Druck, der völlig unnötig ist.

Da ist wahrscheinlich auch mein Problem: Ich mag Sprache, und es kribbelt mir alles, wenn Dinge ständig in Worthülsen verpackt werden. Deswegen beschäftigt mich die Frage, was ich wirklich sagen kann – in meinen eigenen Worten, ohne auf diese Phrasen zurückzugreifen.

Gerade wenn es um politische Themen geht, stoße ich oft an die Grenze. Ich denke, manches ist einfach ein strukturelles Problem und kein persönliches. Zum BeispieChristoph Luchs: Dass Vermögen nicht ausreichend besteuert wird und wie das Erben in Deutschland funktioniert, ist ein politisches und strukturelles Problem. Das ist nicht mein persönliches Versagen, dass ich nichts erbe – das hat nichts mit meinem „Mindset“ oder meiner „Leistung“ zu tun.

Und genau das ist der Punkt, den ich immer wieder ins Bewusstsein rufen möchte. Es geht mir um die Entmystifizierung dieses ständigen Geredes über „Mindset“, „Erfolg“ und „Lebe deinen Traum“. Diese Konzepte verschleiern oft die Realität und lenken den Blick von den wirklichen, systemischen Problemen ab.

CHRISTOPH LUCHS: Ja, das sind viele Themen, das sind viele tiefe Themen auch, über die wir uns jetzt auch sicherlich noch länger unterhalten könnten. Ich hätte da auch noch so ein paar Sachen, die ich nennen kann. Aber was du eben gerade beschrieben hast mit der mit dem Thema Öffentlichkeit, dass man dann auch irgendwie. Du hattest das vorhin so gesagt: Wenn ich mich mit der AfD nicht anlege, dann habe ich was falsch gemacht eigentlich. Also wenn ich das mal mit meinen Worten wiederhole. Also es ist schwierig mit diesen Botschaften. Du sagst ja auch, du willst eigentlich was sagen und du überlegst dir, was ist es eigentlich als Kreative und vielleicht auch, weil wir so ein bisschen gelernt haben, wenn wir kreativ ausgebildet werden, ob das jetzt Studium oder Ausbildung ist, wir stellen uns ja so als Werkzeuge zur Verfügung, indem wir z.B. mit Typographie umgehen, oder Schriften gestalten als Type Designer. Und das heißt, wir stellen uns sozusagen für den Inhalt quasi zur Verfügung. „Gib mir die Botschaft, gib mir den Inhalt, ich stelle sie dar.“ Und jetzt kommst du plötzlich und sagst: „Ich habe eine Botschaft. Ich habe selber Gedanken, ich habe etwas, das mich bewegt, und das möchte ich ausdrücken.“ Ist das etwas, das wir eigentlich schon viel früher, in der Ausbildung, fördern sollten? Dass wir sagen: „Ihr habt doch selber auch was zu sagen, ihr habt doch selber auch Gedanken?“

CHRIS CAMPE: Ja, das ist eine gute Frage. Ich glaube, ein Teil des Unterschieds zwischen angewandter und freier Kunst – oder zwischen Dienstleistung und freier Kunst – ist der Wandel, den viele Künstler im Laufe ihrer Karriere erleben. Ich habe das bei einigen Freundinnen beobachtet, die auch in meinem Alter sind, also Mitte 40. Ich bin 45 und arbeite seit 10 Jahren ausschließlich mit Schrift, seit 15 Jahren bin ich selbstständig. Und ich denke, es ist ganz normal, dass sich irgendwann eine Ermüdung einstellt, wenn man nur als Dienstleisterin tätig ist. Es ist dann auch wichtig, parallel etwas Eigenes zu entwickeln, etwas, das einem selbst wichtig ist.

Bei vielen, die sich in dieser Phase ihrer beruflichen Entwicklung befinden, sieht man, dass sie anfangen, mehr eigene Projekte zu realisieren oder Wege finden, freier zu arbeiten. Das ist, glaube ich, eine typische Entwicklung hin zu mehr künstlerischer Tätigkeit. Für mich bedeutet künstlerische Arbeit: „Ich habe etwas Eigenes zu sagen, ich gestalte nicht nur das, was jemand anderes möchte.“ In meiner Ausbildung habe ich ja Illustration studiert, was mich stark auf Dienstleistung ausgerichtet hat, auf kleine Formate, die man noch schnell auf den Scanner legen kann. Das zu überwinden, war für mich eine Herausforderung. Mit Anfang 20 hätte ich auch nicht freie Kunst studieren können, weil ich nicht einmal wusste, dass es einen Unterschied zwischen angewandter und freier Kunst gibt.

Um freie Kunst zu machen, braucht man nicht nur ein anderes Selbstbewusstsein, sondern auch eine andere Haltung und oft auch familiäre Unterstützung. Es ist nicht einfach zu sagen: „Ja, ich mache freie Kunst!“ Ich kannte bis dahin vor allem Bücher und Illustrationen, und das war der Weg, den ich gegangen bin.

Ob man den Unterschied zwischen angewandter und freier Kunst schon in der Ausbildung thematisieren sollte? Ich denke, das könnte heute anders sein, vor allem, weil junge Menschen, die jetzt Anfang 20 sind, durch Social Media schon viel mehr daran gewöhnt sind, sich öffentlich zu äußern und ihre Arbeiten zu zeigen. Ich glaube, das ist ein großer Unterschied zu meiner Generation.

CHRISTOPH LUCHS: Kommen wir nochmal zu der Typographie zurück. Du sagtest, dass du angefangen hast, Schriften zu zeichnen, Alphabete zu zeichnen, zu suchen. Wann hört die Konvention auf, wann beginnt eine neue Form? Unter Umständen ist es etwas, was ja auch dich so fasziniert an der Typografie an sich, oder wie bist du da überhaupt in diese Richtung gekommen, dass du sagst Ich mache – heute würden wir es Hand lettering nennen – aber wie hat man es damals genannt?

Ich kenne es aus meiner Zeit, da war die Typografie noch sehr technisch geprägt. Alle haben sich darüber erst mal begeistern können. Dass ein Computer Schriften ausspucken kann, was in den Neunzigern sensationell war. Und dann konnte man die belichten. Die waren gestochen scharf, da war nichts aufgebrochen, nichts gepixelt, gepunktet, gerastert, sondern es war alles knackscharf und in allen Schriftgrößen. Vor allem man konnte jede beliebige Schriftgröße drucken und gestalten. Und dann gab es auch viele technische Initiierungen, zum Beispiel Robofont aus den Niederlanden oder so, die gesagt haben Wir skripten Font und wir nehmen die Vektoren, wir wirbeln die durcheinander, random mäßig und dann kommt hinterher jedes Mal eine neue Form bei raus und die bestimmt eher der Computer und nicht wir.
Und das heißt, es war eine sehr technoide Sicht, eigentlich auch auf die Schrift oder auf die Typografie generell in der Anwendung. Und das heißt, jetzt, wo wir vieles Handschriftliche sehen, handgemacht sehen, frag ich mich natürlich wo kommt das eigentlich her, wo kommt dieser Wunsch her, das zu tun? Oder auch die der Gedanke? Kannst du das von dir aus beschreiben?

CHRIS CAMPE: Ich glaube, ein großer Teil des Interesses an handgemachten Dingen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hängt damit zusammen, dass immer mehr Dinge digital werden. Wir leben in einer Zeit, in der fast alles nur noch digital stattfindet, und wir wischen ständig über glatte Oberflächen. In dieser digitalen Welt fehlt oft das Erleben von etwas Greifbarem, von einem echten, spürbaren Prozess.

Es ist total befriedigend – oder manchmal auch frustrierend – etwas in die Hand zu nehmen und eine Bewegung zu machen, die dann eine Spur hinterlässt. Diese Bewegung, die auf dem Papier sichtbar wird, dokumentiert etwas von dem Moment: Vielleicht war ich schnell, vielleicht war ich unruhig, vielleicht hatte ich viel Farbe auf dem Blatt – und an dieser Spur lässt sich ganz viel ablesen.

In den Kursen, die ich anbiete, sagen viele Leute, dass sie das Ganze als meditativ empfinden. Es geht nicht darum, ein perfektes Blatt zu erschaffen, sondern einfach um die körperliche Erfahrung. Es geht darum, jeden Tag diese Bewegung zu üben, egal was passiert. Man übt und schaut, was sich entwickelt – auch wenn man sich mal langweilt. Höre ich dann auf oder mache ich weiter? Entspanne ich mich und lasse mich einfach darauf ein?

Es ist ein bisschen wie beim Klavierspielen oder beim Sport: Man muss immer wieder die gleichen Übungen machen, um sich zu verbessern und die Bewegungen zu verinnerlichen. Das finden viele, die bei mir sind, oft sehr entspannend. Es ist weniger das Ziel des „perfekten Produkts“ als vielmehr der Prozess selbst, der beruhigend wirkt.

Ich denke, es gibt einfach eine Art Gegenbewegung zu all dem Technischen, besonders auch im Vergleich zu dem Fokus auf Technologie, den wir in den 90er Jahren erlebt haben. Das könnte ein Grund sein, warum immer mehr Menschen sich für handgemachte, analoge Dinge interessieren. Es ist eine bewusste Abkehr von der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung.

Für mich persönlich kommt noch hinzu, dass ich vom Zeichnen komme. Ich bezeichne mich nicht wirklich als Typografin – und es gibt immer noch Mikro-Typografie-Details, bei denen ich nachschlagen muss, um sicherzugehen. Ich kann natürlich ein Buch gestalten – ich habe meine eigenen auch gestaltet – aber neulich habe ich eine Vorlage von Adobe genutzt, und da dachte ich mir: „Warum sollte ich mich überhaupt noch mit so etwas wie Zeilenabstand und dergleichen beschäftigen? Ich nehme einfach eine Vorlage und passe sie ein bisschen an.“ Ich finde das nicht ungewöhnlich – gerade bei solchen Tools, die einem viel abnehmen, ist es verlockend, sich weniger Gedanken über jedes Detail zu machen.

Es gibt aber diese Vorstellung, dass man als Designerin oder Typografin keine Fehler machen darf. Gerade, wenn man in der Berliner Typo-Szene unterwegs ist, hatte ich das Gefühl, dass jeder noch so kleine Fehler sofort auffällt und kritisiert wird. Das hat sich schon im Studium gezeigt: Wir mussten immer wieder hören, wie sehr sich alles seit Gutenberg verändert hat – aber wehe, man machte einen Fehler. Diese Drohkulisse hat mich damals begleitet und war irgendwie immer präsent.

Mittlerweile verändert sich das glücklicherweise, weil so viele Leute Lettering und Schriftgestaltung als Hobby betreiben. Der Bereich wächst, und es gibt jetzt einen großen Hobbybereich, aber auch einen kleineren, professionellen Designbereich, in dem ich mich selbst sehe. Das führt dazu, dass Schrift und Typografie nicht mehr so streng und dogmatisch gesehen werden wie früher. Es wird mehr Raum für Experimente und kreative Freiheit geschaffen.

Für mich war Typografie nie wirklich das, was mich fasziniert hat – dieses strenge, oft auch männlich dominierte Feld. Ich stehe eher an einer Schnittstelle: Ich komme vom Zeichnen, habe Illustration studiert und arbeite jetzt mit Schrift. Es ist keine klassische Typografie, sondern eine Mischung aus Illustration und Schriftgestaltung.

Die Schrift, die ich mache, ist nicht super präzise – sie ist expressiv und spielerisch. Das finde ich spannend, weil ich die Konventionen der Schrift nutzen kann – zum Beispiel, dass ein „H“ aus zwei Senkrechten und einem Querstrich besteht, oder dass das „A“ aus zwei Diagonalen und einem Querstrich gebildet wird. Aber innerhalb dieser Vorgaben habe ich die Freiheit, zu experimentieren, zu spielen und die Formen zu variieren.

Für mich ist das die interessante Spannung: die Balance zwischen einer klaren Vorgabe und der kreativen Freiheit, sie zu gestalten und zu verändern, ohne den Bezug zur Tradition zu verlieren. Und das ist für mich der wahre Reiz – diese Mischung aus Struktur und Spielraum, gepaart mit dem handgemachten Aspekt.

 Als Kind habe ich immer Fensterbilder gebastelt und generell viel mit meinen Händen gearbeitet. Und das mache ich immer noch. Ich finde, das ist heute wichtiger denn je, weil das etwas ist, was KI einfach nicht kann. KI kann kein Demoschild malen oder ein großes Papierbanner gestalten – nichts, was so einen eigenen Charakter hat. Wenn ich auf Papier arbeite, bin ich gezwungen, mich viel mehr mit dem zu befassen, was ich tatsächlich mache. Ich kann nicht einfach schnell zurückgehen, wie es beim digitalen Zeichnen auf einem iPad der Fall ist, wo ich oft zu schnell die Rückgängig-Funktion benutze, wenn etwas nicht sofort so aussieht, wie ich es mir vorstelle.

Auf Papier muss ich viel mehr loslassen – das, was ich mir im Kopf ausgedacht habe, und mich dem fügen, was ich tatsächlich auf dem Papier erreicht habe. Oft entstehen Fehler, die ich dann akzeptiere und in meine Arbeit integriere. Ich muss mit dem weitermachen, was da ist, und das finde ich total produktiv. Es ist eine ganz andere Erfahrung, die mir hilft, mich auf den Moment einzulassen und das Ergebnis zu akzeptieren, anstatt ständig nur nach Perfektion zu streben.

CHRISTOPH LUCHS:  Den Unmut gegenüber der Mikrotypografie kann ich absolut nachvollziehen, auch wenn ich weiß, wann das Viertelgeviert gesetzt wird und wann nicht und wann die Interpunktion im Angelsächsischen anders gesetzt wird als in Zentraleuropa. Und welche Schweizer Unterschiede beim Eszett oder ss entstehen und all solche Dinge. Aber da haben sich ja auch andere schon ausreichend mit beschäftigt. Ich finde das ganz toll, dass es solche Bücher gibt wie von Forstmann und Jung Mikrotypografie, wo einfach alles drinsteht zum Nachschlagen. Und das ist, finde ich, ganz hervorragend, dass es so was gibt. Und dann, wenn man das nicht weiß, dann guckt man da rein und dann hat man das im Schrank. Ich finde so etwas gut.

CHRIS CAMPE:  Also da habe ich hier auch stehen, da gucke ich auch immer nach und ich hätte jetzt schon Anekdote, aber die spare ich mir, die erzähle ich ein anderes Mal.

CHRISTOPH LUCHS: Beim nächsten Mal. Ein Beispiel, was du auf deiner Website zeigst, ist ein wunderbares Bild aus deinem Atelier in Hamburg. Und zwar sieht man dich selbst in deinem Atelier sitzen. Aber was besonders Schönes finde ich persönlich unglaublich ästhetisch, ist der Schattenwurf aus deinem Schaufenster. Kannst du mal sagen, was du da gemacht hast? Mit dem Schaufenster?

CHRIS CAMPE: Ich habe hier in Hamburg ein kleines Büro, das eigentlich nur 14 Quadratmeter groß ist, aber eine Seite ist komplett verglast – große Schaufenster. Wenn Leute, die mich von Instagram oder meiner Website kennen, hierher kommen, sind sie oft überrascht, wie klein der Raum ist. Aber das Schaufenster hat für mich von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Ich bin seit Juli 2014 hier, also schon über zehn Jahre, und ich wollte unbedingt etwas damit machen.

Am Anfang habe ich Songtexte in das Schaufenster geschrieben. Ich erinnere mich noch, dass ich damals Pappbuchstaben benutzt habe und der Song „Hands up, Baby Hands up“ im Radio lief. Da dachte ich mir, warum nicht den Text ins Fenster schreiben? Das kam direkt gut an. Leute blieben stehen, sahen den Text und fingen an, mitzusingen. Ein anderes Mal schrieb ich „But the kid is not my son“ rein, und zwei Frauen begannen, vor ihren kleinen Kindern zu tanzen, die den Song noch nicht kannten. Es war ein Moment, der mir zeigte, dass ich da wirklich etwas geschafft hatte.

Ich habe das dann weitergemacht, etwa alle zwei bis drei Wochen einen neuen Songtext ins Fenster gehängt, wie zum Beispiel „All the leaves are brown and the sky is grey“. Die Lieder, die jeder kennt, wo sofort die Melodie im Kopf ist. Ich nannte das Ganze „Schaufenster-Karaoke“ und es hat super funktioniert. Es gab viele Reaktionen: Leute klebten Zettel an die Scheibe, um den Text fortzusetzen oder warfen Nachrichten in meinen Briefkasten, um sich zu bedanken. Einmal kam jemand vorbei und fragte mich: „Warum machst du das eigentlich?“ Und meine Antwort war einfach: „Aus Spaß!“ Es war einfach ein kleines Projekt, das mir Freude bereitet hat.

Ein anderer meinte, dass er jeden Morgen mit dem Fahrrad vorbeifährt und es dann immer spannend ist, den Song zu erraten, bevor er im Büro darüber spricht, was der Text bedeutet. Es war diese einfache, aber schöne Art der Interaktion, die das Schaufenster für mich zu etwas Besonderem gemacht hat.

Das Schaufensterprojekt hat sich ziemlich weit verbreitet und interessante Kreise gezogen. Irgendwann, wenn ich in Hamburg zu einer Ausstellungseröffnung oder einer Party ging, konnte ich sagen: „Ich bin Designerin, spezialisiere mich auf Schrift und habe ein Büro am Venusberg.“ Aber meistens kam dann die Antwort: „Ach, du bist die mit den Buchstaben!“ Das war natürlich großartig, weil es zeigte, dass die Leute mich über das Schaufenster und die kreative Arbeit, die ich dort gemacht habe, kannten. Im Grunde hatte ich das Schaufenster also auch als Schaufenster für meine Arbeit genutzt.

Gleichzeitig hatte dieses Projekt aber keinen kommerziellen Zweck. Da stand nie „Ich zeichne tolle Buchstaben für Sie“ oder „Holen Sie sich Songtexte bei mir“, es war einfach da, ohne etwas verkaufen zu wollen. Das hat das Ganze irgendwie besonders gemacht, weil es den Leuten nicht sofort klar war, was das eigentlich sollte, und das war schön. Es hatte eine gewisse Unklarheit, die es spannend machte. Nach drei Jahren habe ich das Projekt dann auslaufen lassen, aber seitdem male ich regelmäßig neue Alphabete in mein Schaufenster.

Jedes Mal gibt es eine neue Variation, die einen eigenen Namen bekommt. Aktuell ist es das „Negativ Space Verbet“, bei dem ich nicht die Buchstaben selbst male, sondern die Formen um die Buchstaben herum. Auf meiner Website sieht man ein weiteres Beispiel, das „Pattern Verbet“, bei dem die Buchstaben vervielfacht und vertikal gestapelt werden, sodass sich interessante Musterketten bilden. Es ist immer wieder eine schöne Überraschung, wie sich der Schattenwurf verändert, je nachdem, wie das Alphabet gemalt ist. Das macht das Ganze für mich besonders und gibt mir jedes Mal eine neue kreative Entfaltungsmöglichkeit.

Das Foto wurde von Alexandra Paulina gemacht, einer Fotografin aus Hamburg, die wirklich beeindruckende Projekte realisiert und deutlich talentiertere Menschen als mich fotografiert hat. Aber sie hat das wirklich großartig eingefangen. Das war zwar kein sonniger Tag, und als sie mit ihrem Blitzlicht kam, war ich erst etwas skeptisch, weil ich nicht sicher war, wie das wirken würde. Aber sie hat ein echtes Händchen für solche Inszenierungen. Sie hat den Raum, die gesamte Arbeit und mich darin wirklich gut eingefangen und so eine Atmosphäre geschaffen, die einfach perfekt zu dem Projekt passt.

CHRISTOPH LUCHS: Schön, das ist ja auch ein Ding der Fotografie, dass es diesen Moment so einzufangen, dass es entweder gut gesehen ist, also sofort quasi abgedrückt, eine Art Schnappschuss oder wenn es halt gar nicht anders geht, dass man es halt so inszeniert, als wäre gerade die Sonne reingefallen. Nur vielleicht in dem Winkel, kommt sie vielleicht gar nicht durch die anderen Häuserfluchten durch und dann geht es halt gar nicht, das so aufzunehmen. Aber dafür sieht es, finde ich persönlich sehr schön aus und sehr spontan. Und das ist auf jeden Fall sehr gelungen. Kommen wir mal zu deinen anderen typografischen Projekten. Du hast auch Bücher gemacht, vielleicht kannst du dazu mal was erzählen. Was war dir dabei wichtig? Ein Buch zu machen und welche Chancen sozusagen haben dir? Oder welche Freiheiten hat dir in dem Fall die Verlegerin gegeben oder der Verleger?

CHRIS CAMPE: Ich habe bisher sechs Bücher veröffentlicht, zwei davon über Hamburg und fünf über Schrift. Meine Karriere als Buchhändlerin begann eher zufällig nach dem Abi, als ich in Walsrode, meiner Heimatstadt, eine Ausbildung zur Buchhändlerin machte. Es war eine zweieinhalbjährige Ausbildung, und während ich so im Laden stand, wurde mir ziemlich schnell klar: Das hier möchte ich definitiv nicht mein Leben lang machen. Ein Laden mit festen Öffnungszeiten, wo ich von neun bis 18 Uhr arbeiten muss – das war für mich ein klares „Nein“. Ich hatte nie romantische Vorstellungen davon, ein Café zu besitzen oder einen eigenen Laden zu führen. Ganz im Gegenteil – ich wollte auf keinen Fall mit Öffnungszeiten arbeiten!

Während meiner Ausbildung zur Buchhändlerin hatte ich oft den Gedanken, dass ich eines Tages ein Buch mit meinem Namen drauf verkaufen würde. Dieser Wunsch keimte schon damals in mir auf, obwohl ich noch nicht wusste, wie oder wann das passieren würde. Bücher waren schon immer ein großer Teil meines Lebens. Meine Freundin sagt oft, ich lese zu viel, und das stimmt – Lesen begleitet mich nach wie vor sehr stark. Durch die Ausbildung wollte ich nicht nur die Seite der Leserin kennenlernen, sondern auch die der professionellen Buchverkäuferin.

Es dauerte dann noch zehn Jahre, bis 2010 mein erstes Buch, das „Hamburg Alphabet“, erschien. Es war ein kleines Buch im Postkartenformat, das 220 Ladenschilder aus Hamburg in alphabetischer Reihenfolge zeigt. Um es zu realisieren, bin ich ein halbes Jahr lang mit dem Fahrrad durch Hamburg gefahren, etwa 1500 Kilometer, und habe über 1000 Schilder fotografiert. Diese habe ich dann in alphabetischer Reihenfolge in das Buch gepackt. Es war mein Einstieg in die Welt der Buchveröffentlichungen.

Später folgte ein Hamburg-Reiseführer mit 200 kurzen Texten zu schönen Orten in der Stadt. Dabei war das das erste größere Lettering-Projekt für mich. In diesem Reiseführer habe ich die Kapitel und Stadtteile mit handgemachtem Lettering versehen, was 2013 mein erstes größeres Projekt in diesem Bereich war.

2017, 2018 und 2019 erschienen dann drei weitere Bücher, diesmal ganz dem Thema Lettering gewidmet.

Mein erstes Buch war das „Handbuch Handlettering“, gefolgt vom „Praxisbuch Brush-Lettering“ und schließlich „Making Fonts“, das ich zusammen mit Ulrike Rausch geschrieben habe. Die ersten beiden Bücher konzentrieren sich auf Handlettering, also auf die Kunst der gezeichneten Schrift, während „Praxisbuch Brush-Lettering“ sich speziell der Pinselschrift widmet. Bei „Making Fonts“ geht es darum, den Leser:innen zu zeigen, wie sie selbst eine Schrift gestalten können. Das Buch richtet sich an Grafiker:innen und Illustrator:innen, die schon immer ihre eigene Schrift entwerfen wollten. Ulrike ist als Type-Designerin spezialisiert auf Schriften, die aussehen wie handgeschrieben, und sie hat mich immer ermutigt, es selbst auszuprobieren. Sie sagte oft: „Nimm dir einfach mal eine Woche zwischen Weihnachten und Neujahr und mach einen kleinen Font.“

Für mich war die Zusammenarbeit mit ihr eine Möglichkeit, das zu lernen, was sie so gut kann – und wir wollten in diesem Buch den Leser:innen zeigen, wie sie es auch lernen können. Es geht um Typedesign für Nicht-Profis, um die Grundlagen des Schriftmachens mit Programmen wie Glyphs.

2020 habe ich dann noch ein weiteres Buch veröffentlicht, das eigentlich fast mehr ein Heft ist. Es erschien in der Reihe „Hundred for Ten“, was bedeutet, dass es 100 Seiten für nur 10 € umfasst. In diesem Buch habe ich 50 Alphabete aus meinen Skizzenbüchern zusammengestellt. Es ist eine Sammlung von Entwürfen, die ich sonst nur in meinen Skizzenbüchern oder auf Instagram gezeigt hatte. Viele dieser Alphabete sind in Originalgröße abgedruckt und es war schön, sie auf diese Weise in einem physischen Format zu verewigen.

Es hat mich sehr gefreut, dass das Buch „Hundred for Ten“ so gut angekommen ist und die Leser:innen es schätzen. Ich habe in den letzten Tagen darüber nachgedacht, ob ich vielleicht einen zweiten Band machen könnte oder sogar ein ganz neues Buch, das sich ausschließlich mit den Alphabeten aus meinen Skizzenbüchern beschäftigt. Also Spoiler Alert: Ich habe da eine neue Idee!

Ich könnte die Alphabete noch einmal durchgehen, sie neu anordnen und vielleicht auch kommentieren – was war meine Intention bei den einzelnen Entwürfen? Ich finde es immer spannend, wenn ein Buch nicht nur eine Sammlung von Logos oder Designs ist, sondern auch eine kleine Geschichte dazu erzählt. Für mich ist es wichtig, dass der Leser versteht, was hinter den Entwürfen steckt, weshalb ich mir vorstelle, dieses Buch nicht nur als Sammlung von Alphabeten zu machen, sondern es auch zu kommentieren. Vielleicht gebe ich dabei auch Einblicke, was ich mir beim Gestalten gedacht habe.

Ich muss zugeben, dass ich es immer schade finde, wenn Designbücher nur eine Sammlung von Entwürfen zeigen, ohne sie ein bisschen zu erklären. Ich nehme mir oft nicht die Zeit, mich in jedes Detail zu vertiefen, daher finde ich es wertvoll, auch Kontext zu geben, um die Arbeiten besser zu verstehen. Also mal sehen, wie schnell ich diese Idee umsetze – aber es könnte in der Zukunft auf jeden Fall noch etwas Neues dazu geben!

CHRISTOPH LUCHS: Ich hatte genau über dieses Thema hatte ich mich mit Karin Friedrichs unterhalten im Podcast und sie Ich hatte sie auch einfach gefragt Ja, was lesen denn eigentlich Kreative? Kreative wollen doch eigentlich im Prinzip eher so bunte Seiten haben, oder? Also irgendwas Visuelles. Und dann wird aber doch sehr viel geschrieben. Und da hatte die Karin auch gesagt oder erzählt, dass das halt eigentlich auch eine Zeitgeistgeschichte ist und dass es früher sehr viele Bücher gab mit sehr vielen Logo Sammlungen und auch Beispielen von Schriften.

Aber dass das Internet das einfach abgelöst hatte. Ich kann heute alles quasi suchen, mir generieren mittlerweile und das ist eigentlich für das für die Buchbranche total uninteressant geworden, weil das machen die digitalen Medien und die Verlage sehen sich da oder zumindest der Verlag Hermann Schmidt sieht sich da einer an einer anderen Rolle, nämlich mehr des Erklärens, des Erzählens, aber auch das sich Beschäftigen mit der Kreativität und auch mit der Selbstständigkeit oder mit dem eigenen Tun.

Und insofern ist die Antwort da eigentlich schon klar, dass es gar nicht darum geht, das Kreative jetzt eigentlich nur bunte Bilder sozusagen durchblättern wollen, sondern die wollen schon etwas wissen, weil sie sich eigentlich sehr intensiv auch mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigen. Ich glaube, jeder, der kreativ tätig ist, stellt sich selber Fragen: Wie mache ich das eigentlich, was ich hier tue? Mache ich das gut und kann ich mir jeden Tag einen Spiegel. Mich angucken und sagen Stehe ich hinter dem, was ich da tue? Oder arbeite ich für die Kunden, für die ich arbeiten will? Oder ist das etwas, was mich erfüllt? Nicht nur dem: Kann ich mich davon ernähren, sondern ist das auch tatsächlich etwas, was ich sage, das ist relevant?

Und insofern finde ich das sehr schön, dass es auch immer Bücher gibt, neue Bücher, auch von dir in dem Fall. Und vielleicht freuen wir uns dann ja auch alle auf den zweiten Band oder die folgenden Ausgaben. Was du noch so alles vorhast.

CHRIS CAMPE: Ich habe noch ein paar Buchideen im Kopf, aber ehrlich gesagt, war ich nach diesem intensiven Büchermarathon, den ich in den letzten Jahren erlebt habe, etwas erschöpft. Ich habe zwei, drei Jahre lang Bücher geschrieben, die ich mir über Aufträge querfinanzieren musste. Fachbücher für Grafiker:innen zu schreiben – vor allem solche, die eine Auflage von nur 4.000 Exemplaren haben und mit viel Text gefüllt sind – war eine ziemliche Herausforderung. Die meisten Leser:innen greifen da zwar zu, aber sie lesen oft eher ohne sich wirklich intensiv damit auseinanderzusetzen. Das führt dazu, dass der finanzielle Gewinn für mich eher gering war. Fachbücher wie diese bringen zwar Renommee und Standing, aber sie zahlen sich nicht unbedingt aus, zumindest nicht in dem Maß, wie man es vielleicht erwarten würde.

Ein gutes Beispiel ist mein „Making Fonts“, das ins Englische übersetzt wurde, während die anderen beiden Bücher nicht übersetzt wurden. Ein Fachbuch mit viel Text ist einfach teuer in der Übersetzung, und es gibt bereits viele andere Autor:innen im englischsprachigen Raum, die ähnliche Themen behandeln. Deshalb ist eine Übersetzung aus dem Deutschen oft nicht besonders wirtschaftlich. Kurz gesagt: Geld bringt es nicht unbedingt ein.

Dennoch wollte ich diese Bücher machen. Das Schreiben und Lesen sind für mich einfach unverzichtbar, fast wie atmen. Ich starte meinen Tag mit einem Buch und beende ihn genauso. Es ist ein essenzieller Teil meines Lebens, und auch wenn es nicht immer finanziell lukrativ war, bleibt die Leidenschaft für das Schreiben und die Bücher.

Ich wollte unbedingt Bücher machen. 2016 hatte ich diesen Moment, in dem mir klar wurde: Ich muss einen Weg finden, das zu finanzieren. Also habe ich in den folgenden drei Jahren, in denen ich an meinen Büchern gearbeitet habe, parallel Aufträge abgewickelt und Workshops gegeben. Insgesamt habe ich in dieser Zeit etwa 600 Seiten geschrieben, mit rund 200 Seiten pro Buch. Das hat es mir ermöglicht, mir wirklich die nötige Zeit zu nehmen, um ein Thema in seiner Tiefe zu verstehen und eine Struktur zu schaffen, die Sinn ergibt.

Ein großer Vorteil des Büchermachens ist, dass man sich so intensiv mit einem Thema auseinandersetzen muss. Es geht nicht nur ums Schreiben, sondern darum, zu überlegen, wie man das Ganze sinnvoll anordnet, wie man Inhalte aufbereitet und zusammenführt. Bei den Fonts haben wir zum Beispiel eine Einleitung geschrieben, die mit Randnotizen und Tipps gespickt ist. Ein witziger Moment darin ist dieser kleine Hinweis, dass wir Designer:innen manchmal abwechselnd ansprechen, und am Ende steht: „Das nervt Sie? Sie schaffen es schon!“. Solche kleinen Eigenheiten finde ich super – einfach mal eigene Regeln aufstellen, und das dann mit Humor nehmen. Natürlich immer in Absprache mit dem Verlag, und ich finde es toll, dass Hermann Schmitz das mitgemacht hat. So konnte ich meiner eigenen Handschrift auch in der Struktur des Buches treu bleiben.

2019 war wirklich eine etwas andere Zeit, was das Schreiben und das Arbeiten an Büchern betrifft. Aber genau das ist es, was mir Spaß macht: sich mit der Struktur eines Buches auseinanderzusetzen, den richtigen Ton zu finden – spricht man die Leser:innen mit „Sie“ an oder doch eher persönlich? Wie geht man mit so einem Thema um, das teils sehr technischer Natur ist?

Am Ende von „Making Fonts“ sind dann ja auch diese ziemlich technischen Anleitungen, um Features zu programmieren. Da muss ich ehrlich sagen, mein Gehirn schläft immer ein, wenn es um Code geht. Ulrike fand das natürlich super und hat sich da richtig reingefuchst. Aber ich habe versucht, das auf eine Weise zu lösen, die für mich stimmig war: Ich habe es in zwei Absätze gepackt, und dann kam ein Witz oder eine Auflockerung dazu. Also so etwas wie: „Falls Sie jetzt in die innere Emigration gegangen sind – keine Sorge, Sie müssen sich das nicht alles merken. Es gibt auch eine einfachere Lösung.“ Das hilft, den technischen Teil ein wenig aufzulockern und zugänglicher zu machen.

Das Schreiben der Bücher hat mir wirklich Spaß gemacht, und es freut mich immer, wenn der Text gelobt wird – das ist das größte Kompliment für mich. Aber es war auch wahnsinnig anstrengend, über drei Jahre hinweg ständig an Büchern zu arbeiten. Nach dieser intensiven Phase war ich wirklich fertig. Fast ein bisschen froh, dass dann Corona kam, weil ich dadurch, ohne Kinder und ohne große Verpflichtungen, eine ruhige Zeit hatte. Es war eine Gelegenheit, mich von diesem Büchermarathon zu erholen.

Jetzt ist es so, dass seitdem vier Jahre vergangen sind, ohne dass ich ein neues Buch geschrieben habe. Ich muss noch herausfinden, wie ich wieder den Anschluss finde. Aber im Grunde habe ich große Lust, weitere Bücher zu machen – die Ideen und der Wille sind da, es fehlt nur noch der richtige Moment, um wieder loszulegen.

CHRISTOPH LUCHS: Schöne Grüße an Karin.

CHRIS CAMPE: Ja, genau. Es gibt Ideen, aber es gibt noch nicht die Energie so richtig oder noch nicht so den Okay, und jetzt wieder in den Buchtunnel! erkennbar.

CHRISTOPH LUCHS: Okay, prima. Ich glaube, wir haben eine ganze Menge über dich erfahren. Aber eine Frage würde ich dir doch gerne noch stellen: Wenn du Zeit, Geld und Material oder Ressourcen zur Verfügung hättest und alle Freiheiten der Welt. Ich glaube, als Kreative haben wir sowieso fast alle Freiheiten der Welt. Zumindest hier. Was würdest du dir als Projekt gerne wünschen, dass du es mal umsetzt oder darfst?

CHRIS CAMPE: Oh, du meinst, außer die FDP zur Auflösung zu bringen? Die blöde kleine Splitterpartei, die alles blockiert? Also, ich habe momentan keine konkreten Projekte, die ich unbedingt umsetzen möchte. Es gibt vielleicht ein paar persönliche Wünsche, die mir das Leben erleichtern würden, aber ich habe noch keine klare Vision für das, was ich als nächstes machen möchte. Vielleicht brauchst du noch eine andere Abschlussfrage, aber darauf habe ich jetzt auch keine Antwort.

CHRISTOPH LUCHS: Ich habe ja noch ein paar Joker, so ist das nicht.

CHRIS CAMPE: Also, ich denke noch darüber nach. Es gibt ein, zwei Projekte, die ich gerne umsetzen würde, aber ich glaube, es wäre jetzt nicht sinnvoll, die hier einfach in die Welt zu setzen. Ansonsten würde mir nur etwas auf politischer Ebene einfallen, aber da wüsste ich auch nicht, wie man das konkret angeht. Das wäre auch nicht unbedingt ein Designprojekt. Generell würde ich aber gerne mehr größere Dinge im öffentlichen Raum realisieren. Das fände ich schon spannend – auch wenn es vielleicht ein bisschen ein persönliches Eitelkeitsding ist. Ich würde einfach gern mal etwas Großes im öffentlichen Raum schaffen.

CHRISTOPH LUCHS: Genau. 200 Besucher, 500 Besucher, 5000.
Okay. Ja, prima. Ich komme noch mal zurück aufs Hand-Lettering. Weil das war ja auch der Ursprung eigentlich unseres Gesprächs, was ich bei dir auf der Beyond Tellerrand kennengelernt habe. In dieser Form von dir auch von anderen habe ich schon Händler drin gesehen oder auch schon viele Making of Videos auf Instagram zum Beispiel und andere Dinge: Wie bastel ich mir mein Pen von Snus waren zum Beispiel auch wunderbare Dinge so tut und dann mit seinem Koffer durch die Welt reist und immer irgendwo auftaucht in der hintersten Provinz und einen Workshop gibt. Aber was ich dazu noch mal zurück fragen möchte ist Handlettering.

Wenn wir jetzt sagen Schrift wird geschrieben, gezeichnet und gemalt, dann ist das ja etwas was völlig anderes außer jetzt. Schrift wird gesetzt, Schrift wird gesetzt aus einem Alphabet, was es schon definiert gibt, sondern ich definiere mein eigenes Alphabet. Ist das etwas, was besonders jetzt nicht nur ein vielleicht kurzfristiger oder etwas längerfristiger Trend ist? Man sagt okay, es muss irgendwie was Handgemachtes sein, sondern das ist eigentlich viel tiefer geht, das von dir eher sagen, das hat was Echtes, es hat etwas Authentisches. Ist das nicht nur von mir. Es hinterlässt nicht nur meine Spur.

Du hattest vorhin von Spuren gesprochen, sondern es hat auch damit zu tun, dass wir uns eigentlich auch viel lieber mit dem Original beschäftigen, mit dem was ist wirklich echt? Wo wir mittlerweile von so vielen Kopien oder auch nachgemachten Imitaten umgeben sind und wir fast nicht mehr wissen Ist es noch Fake oder ist es wirklich real und es fällt immer schwieriger, das zu unterscheiden? Das wir uns dann eigentlich auch zumindest intellektuell erst mal abkehren von diesen Fake, von dieser Fake Umgebung, dass wir sagen, wir suchen ganz bewusst das Echte.

Ist es das, was es, was das Händler Ding so auch als Faszination ausmacht und hoffentlich auch vielleicht noch ein bisschen länger als Trend oder auch als Technik oder als Methode einsetzt?

CHRIS CAMPE:  Also, 2017, auf der Typo-Konferenz, habe ich einen Vortrag gehalten, und danach wurde ich auch gefragt: „Ist Lettering nicht schon wieder vorbei, dieser Trend?“ Und ich dachte mir, okay, das war jetzt schon sieben Jahre her. Ich habe ja von 2010 bis 2012 in Chicago studiert, meinen Master gemacht, und war da von amerikanischen Produkten und Design umgeben. In den USA war alles voll mit Brush Lettering und Brush Script – das war auf jeder Verpackung. Als ich dann nach Deutschland zurückkam, ging es hier gerade erst los. Da wurde Lettering gerade erst zu einem Begriff, und ich dachte mir: „Ist das wirklich schon durch?“

Ich glaube, das ist immer so eine persönliche Wahrnehmung. Man merkt Trends anders, wenn man selbst darin steckt. Es gibt da auch verschiedene Ebenen. Zum einen gibt es Lettering als Spezialisierung im Design – das mache ich, das macht auch Martina Flor, und das tun einige andere in Deutschland. Zum anderen gibt es Lettering als Hobby oder als Dekoration, bei dem bestimmte Stile immer wieder verwendet werden, aber ohne dass sie wirklich maßgeschneidert sind oder mit dem Inhalt in Verbindung stehen. Es wird dann oft einfach eine Form genommen und darauf gepresst, ohne dass sie wirklich die Aussage oder den Kontext widerspiegelt.

Ich glaube, diese Spezialisierung im Design hat immer schon existiert. Mein Eindruck ist, dass sie sich ständig ausdehnt und dann wieder in einen kleineren Bereich zurückzieht, der vor allem um Themen wie Hochwertigkeit, Authentizität, Menschlichkeit und Emotionalität geht. Und genau da passt individuell gestaltete Schrift perfekt – Schrift, die man sieht und bei der man erkennt, dass sie nicht einfach aus einer Vorlage stammt, sondern tatsächlich von einer Hand gestaltet wurde. Oft reicht es ja schon, wenn die Schrift einen handschriftlichen Eindruck vermittelt, um diese Assoziationen zu wecken, dass sie echt, menschlich und authentisch ist. Viele Schriften, wie die von Ulrike Rausch, simulieren das heutzutage unglaublich gut.

Aber weil es inzwischen so viele Fonts gibt, die genau diese Assoziationen wecken, versuche ich, etwas zu schaffen, das man mit einer Font nicht machen kann. Etwas, bei dem von Anfang an klar ist, dass eine Hand im Spiel war, dass die Schrift individuell für einen bestimmten Zweck gestaltet wurde. Das ist für mich das Wesentliche an der Art von Lettering, die ich mache: Es geht um maßgeschneiderte Buchstabenfolgen, die speziell für einen bestimmten Verwendungszweck entworfen wurden – und die in einer anderen Kombination oder einem anderen Kontext so nicht funktionieren würden.

Diese Frage nach dem Authentischen wird für mich immer interessanter, vor allem, weil ich ja Kulturwissenschaften studiert habe. Dadurch bin ich immer ein bisschen skeptisch, wenn es um den Begriff „Echtheit“ oder „Authentizität“ geht. Oft geht damit nämlich die Vorstellung einher, dass es einen „inneren Kern“ gibt, der das wahre, das echte Etwas repräsentiert. Aber was ist das eigentlich, dieses „Echte“und …

CHRISTOPH LUCHS: Das Wahre, die Wahrheit.

CHRIS CAMPE: Genau, diese Vorstellung führt oft in die Irre. Man könnte sogar sagen, dass eine Kopie genauso ihre eigene Authentizität hat. Und damit kommt die Frage auf: Wo fängt eigentlich das „Original“ an? Was ist wirklich authentisch? Aber was auf jeden Fall eine große Rolle spielt, ist die Haptik. Dinge, die in der realen Welt existieren und nicht nur als Pixel auf einem Bildschirm – die man anfassen und physisch erleben kann. Diese Haptik wird, glaube ich, immer wichtiger, vor allem in bestimmten Kreisen, und im Design spielt sie eine entscheidende Rolle.

Selbst wenn der Trend des Brush Letterings in der breiten Masse nachlässt – wenn also nicht mehr jede Joghurtpackung mit einem Brush-Lettering-Font versehen wird – bleibt der Bedarf nach handgestalteter Schrift bestehen. Besonders im Packaging, wo Trends oft zeitversetzt umgesetzt werden, hat diese Art der Schriftgestaltung nach wie vor ihren Platz. Ich habe das Gefühl, dass dieser Trend langsam zurückgeht, aber es wird immer einen Bereich geben, in dem handgefertigte Schrift gut zur Kommunikation von Authentizität und Persönlichkeit beiträgt. Deshalb mache ich mir keine großen Sorgen, dass dieser Bereich an Bedeutung verliert.

CHRISTOPH LUCHS:  Genau. Also der Trend wird nicht letztendlich damit irgendwann wieder vorbei sein. Aber wie du schon sagtest, das konzentriert sich vielleicht wieder mehr auf neue Phasen oder auch der intellektuelle Austausch auch unter den Typografinnen und Typografen oder alle die, die das auch beruflich machen und nicht nur als Hobby nebenbei, die werden natürlich auch dazu führen, dass man sich damit auseinandersetzt und dann weiterführt und eventuell was Neues daraus entwickeln kann. Eventuell auch wieder die Verknüpfung mit dem Digitalen, was dann vielleicht die Möglichkeit hat, quasi das Haptische vielleicht auch mal erlebbar zu machen in der Digitalität, was ja bislang immer so eine Barriere ist oder bislang auch immer eine Hürde war oder eine Trennlinie, sagen wir mal, zwischen diesen ganzen Welten und vielleicht gibt es da ja zukünftig Möglichkeiten, das Ganze miteinander zu verbinden. Und wer weiß, was da noch auf uns zukommt.

Ja, Chris, ich würde sagen, vielen Dank, dass du heute dabei warst, dass du Designerklärerin für deine Tätigkeit, für deine künstlerischen und kreativen Arbeiten warst und dass du uns das Thema näher gebracht hast.

CHRIS CAMPE: Sehr gerne und Dank für die Einladung.

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